Zu der Ausstellung Interdependenz von Bettina Meyer
Unvereinbares aushalten Marietta Franke
In ihrer Einzelausstellung im Städtischen Museum Wesel, der Bettina Meyer den Titel
Interdependenz gegeben hat, zeigt die Künstlerin neue Stapelungen im Foyer des Museums
und in dem Vorraum des unterirdischen Ausstellungsraumes und schließlich dort
eine von der Decke hängende Arbeit, drei für die Ausstellung entstandene lebensgroße
Styroporskulpturen, eine Wandarbeit, eine weitere Stapelung und eine dreiteilige Lichtbildprojektion.
–––––––– In dem fast quadratischen, mit schwarzem Teppichboden ausgelegten
Ausstellungsraum steht in der Mitte ein von außen weiß gestrichener Kubus,
der fest installiert ist und als sogenannte begehbare Schatzkammer Tafelmalereien niederrheinischer
Meister aus dem Spätmittelalter, insbesondere Derick Baegerts Gemälde
»Die Eidesleistung«, 1493/94 für den Weseler Rats- und Gerichtssaal, das vor dem Meineid
warnt, und andere, auch religiöse Figuren und Objekte beinhaltet. Während die
Schatzkammer hell mit elektrischem Licht beleuchtet ist, wird der sie umgebende Raum
von oben durch einige Strahler und zwei runde, gewölbte Deckenfenster durch natürliches
Licht eher spärlich beleuchtet und ist damit von einer gedämpften Stimmung
durchzogen. –––––––– Die drei lebensgroßen Styroporfiguren #13 stehen im Lichtfeld der
gewölbten Fenster. Von der Decke hängt ein Objekt in Form einer Waage, die ein in Latex
gegossenes, rot gefärbtes Rinderherz gegen ein rahmenförmiges Gummiobjekt aufwiegt.
#01 In diesem Raum ist auch eine Arbeit in Form einer Papierwolke zu finden, die
von einer gedrechselten kleinen, von einer brüchigen graugrünen Farbschicht überzogenen
Wandkonsole getragen wird. #02 Durch die Kleinheit des Wandsockels wirkt die Papierwolke
größer, etwa so, wie man es von den relativierten, surrealen Größenverhältnissen
und der Kombinatorik in Bildern des Malers René Magritte kennt. Ferner steht dort
eine Stapelung, die den in Gips gegossenen Körper einer Ursula-Figur01 im Geviert eines
auf den Kopf gestellten Holztisches mit gedrechselten Beinen präsentiert. Der Prototyp
der Ursula-Figur ist in Reminiszenz an die für die Stadt Köln bedeutsame Heilige Ursula
im Jahr 2004 für eine skulpturale Situation an einer Hausfassade (Köln, Ursulagartenstraße)
entstanden und kann variable Materialien (zum Beispiel Gips oder Bronze) und Maße haben.
Neben ihr liegt ein zweites, diesmal in Beton gegossenes Rinderherz. –––––
––– Im Foyer des Museums stehen Stapelungen, die im vorigen und in diesem Jahr entstanden
sind. Dazu gehören unter anderem eine Stapelung mit einer in rotem Pigment
gefassten Tonskulptur, die auf einem kleinen Hocker, einem rot gefassten, architekturartigen,
mit gläsernen Wänden versehenen Objektkasten, dessen Rückwand nach innen
verspiegelt ist, und einem rotledernen Album steht. #03 Eine andere Stapelung, mit einer
türkis gefassten liegenden Tonskulptur, die sich auf einer Glasscheibe mit einem eingeätzten
Rechteck an die darunter stehende Nierenform eines kurzbeinigen Tisches
(1950-iger Jahre) mit einer Tischfläche im Schachbrettmuster anzupassen scheint. Auf
dem Boden vor dem Tisch liegen Silikonabgüsse der Hände der Künstlerin.
Beide Arbeiten nehmen den umgebenden Raum in sich auf, die rote Stapelung nicht zuletzt
durch den Spiegel, der die Füße und unteren Beine der davor stehenden Betrachter
zeigt, während sich die gespreizten Finger der Künstlerinnenhände in den Raum unter
dem Tisch mit der türkisfarbenen Skulptur auszustrecken scheinen und die Betrachter
anfangs in einem gewissen Abstand halten, damit sie das ganze Bild der skulpturalen
Situation wahrnehmen können. Treten sie näher an die Arbeit des Tisches heran, um mit
ihr in ein visuelles Zwiegespräch zu kommen, geraten ihre Fuß- bzw. Schuhspitzen womöglich
unter die Glasplatte, sodass sie zum Teil ihres Wahrnehmungsbildes von der Stapelung
werden. In dieser von körperlicher Fragmentierung, materieller und formaler
Kombinatorik, industriell und/oder handwerklich gefertigten Gegenständen und den
durch künstlerische Hände auf verschiedenen Abstraktionswegen ausgeführte plastische
Arbeitsweisen entsteht die Unvereinbarkeit, mit der sich die Künstlerin ›in ihrem Bild
von der Wirklichkeit‹ selbst erlebt und mitteilt. Es entzieht sich ordnenden Gedanken im
Sinne einer Vereinheitlichung, ebenso wie sie sie gleichzeitig, Vielfalt bejahend, als Notwendigkeit
zugibt. –––––––– Um auf künstlerischem Weg Einfluss auf diese Lichtsituation
nehmen zu können, hat Bettina Meyer drei Lichtprojektionen an den Wänden des Raumes
verteilt, die wie Fenster wirken, nicht zuletzt, um den unterirdischen Raum in die überirdische Welt zu öffnen. Es handelt sich jeweils um die Projektion eines kurzen Filmes,
der den feststehenden Blick durch den weißen, durchscheinenden Vorgang vor einem
Fenster nach draußen, in den blauen Sommerhimmel mit weißen Quellwolken zeigt.
Die Falten des Vorhanges wehen leicht im Wind und verschieben sich dabei sanft raumwärts
auf die Betrachter des Filmes zu, die an die Stelle der filmenden Künstlerin treten.
#05 –––––––– Bettina Meyers gestapelte Skulpturen könnten als eine subversive Hommage
an die »endlose Säule« von Constantin Brancusi aufgefasst werden, eine Stapelung
entlang einer senkrechten Achse, die er mit dem Gedanken belegte, dem Göttlichen
entgegenzustreben. Für Künstler wie zum Beispiel Robert Morris eröffnete diese Säule
das Feld minimalistischen Denkens, in dem es schließlich darum ging, ob Wiederholungen
eine Form bei sich selbst oder in der Gestalt eines größeren Ganzen aufgehen lassen,
wobei nicht nur die Ordnung der skulpturalen Elemente, sondern auch die Wahl der
Materialien und die künstlerische Methode ein Wort mitzureden haben. Zweifellos macht
es einen Unterschied, ob man wie Constantin Brancusi Stein oder Holz direkt bearbeitet/
beschlägt oder wie Auguste Rodin auf dem Weg der plastischen Arbeitsweise die Figur
zunächst in Ton aufbaut, um sie dann von anderen (meist von Mitarbeitern) in Gips
und Bronze oder Stein übersetzen zu lassen.03 –––––––– Ob es um die Unendlichkeit oder
ein ausgedehntes Widersprechen geht, das sie als Interpretation entlarvt, die den Blick
auf die sinnlich-künstlerische Form ablenkt, versetzt auch die postmoderne Ablösung/
Abkopplung von der Modernen Kunst in eine fragwürdige Lage. Schließlich hat nicht nur
das elitäre Avantgardedenken der Moderne Schatten geworfen, sondern die Postmoderne
den künstlerischen Blick auf die unbearbeiteten Reste der Modernen Kunst auf lange
Zeit verbaut. Künstler/innen, die sich in ihren Arbeiten heute auf künstlerische Ansätze
der Modernen Kunst beziehen, haben begriffen, dass die postmoderne Absage auch nur
eine andere ästhetische Norm (Jan Mukarovsky) bildete, die ihrerseits der Veränderung
unterliegt. Also kann man sich genauso gut die Freiheit nehmen, künstlerische Arbeiten
herzustellen, die auf den ersten Blick wie eine Nachahmung moderner Ästhetik wirken könnten, bei weitergehender Betrachtung jedoch den Blick auf die Differenzen und Fragestellungen
in den künstlerischen Formen und im künstlerischen Denken öffnen. ––––––
–– Dieser kunsthistorische Kurz-Film begleitet auch Bettina Meyers Stapelungen von
verbraucht und verlassen wirkenden Gegenständen, die zumeist aus der alltäglichen
Verwendung zu Hause oder im Atelier kommen oder irgendwo auf der Straße bzw. dem
Sperrmüll abgelegt wurden, kleine Hocker, Stühle, Tische, Kisten, Platten, auch Bücher
und einiges andere mehr, die dann von handgeformten und mit Pigmenten und Schellack
farbig gefassten Skulpturen aus ungebranntem Ton besetzt werden. –––––––– Die sich in
gewisser Annährung an einen menschlichen Körper befindlichen Skulpturen haben sich
aus einer #06 »Form 0 – Etwas« (1997), einer temporären, durch die plastische Arbeitsweise
des Eindrückens bearbeiteten Tonmasse, die auf dem Boden lag, als einem plastischen
Ausgangszustand entwickelt.04 Die unruhige Verfassung dieser Negativ-Form begann
sich mit der Zeit in einer amorphen Form oder als abstrakte Bewegung, den
Etwassen, wie sie die Künstlerin nennt, aufzurichten, wie zum Beispiel an dem #07 Phosporfarbenen
Objekt und der #08 Moses betitelten, gelb gefassten Skulptur (beide 2014),
der #
09 Skulptur Flesh (2017), der Skulptur #10 Reentry (for Max Ernst) (2019), oder auch
an den dual aufgebauten Tonarbeiten #11 (Duale Form, 2020 und Duale Form – rosa, 2020)
zu beobachten ist,05 bei denen die Künstlerin aus einem schweren Unterteil zwei vertikale,
nach oben hin sich verjüngende Formungen entwickelt hat. Die gegenständlichen Stapelungen,
die diese Skulpturen tragen, sind nicht zuletzt aus der Unzufriedenheit der
Künstlerin mit gewöhnlichen Sockeln06 entstanden. –––––––– Diese Unzufriedenheit hat
sie dazu geführt, sich an ihre frühen Objekt-Arbeiten, zum Beispiel die an einem langen
Seil von der #12 Decke hängende blaue Flasche aus dem Jahr 1994, auf deren Öffnung ein
Papierschiffchen07 gesetzt wurde, zu erinnern und über Möglichkeiten der Kombination
von Gegenständen und Tonskulpturen nachzudenken. Gleichzeitig ging es ihr von vornherein
um offene Beziehungen zwischen unbearbeiteten, durch Setzungen entstandenen
Objekten (ready made/objet trouvé) und von Hand geformten Skulpturen mit dem Raum. Die Künstlerin geht hier einen Weg, auf dem sie unabhängig von kunsthistorischen
Filtern oder Erlaubnissen die Moderne Kunst neu befragt. Mit Blick auf ihre Ausstellung
in Köln (2021),08 die weitgehend gestapelte Objekte zeigte, kommunizierte sie ihre Überlegungen
dann als ›ready-retinale Haltung‹: –––––––– »Durch Stapelungen von Gegenständen
des Alltags und farbig gefassten, von Hand in Ton modellierten Etwassen, möchte ich
die Trennung zwischen dem Nichtdefinierbaren und dem Retinalen, die Marcel Duchamp
in die Kunst eingeführt hat, wieder aufheben. Kunst, die Schönheit anstrebt, und die sogenannte
Ideenkunst, sollen vereint werden, sodass sowohl die Idee (Gehirn) als auch die
Retina (Netzhaut im Auge) bewegt und befriedet werden. Dabei spielt das Äquilibrium lose
aufeinander gestellte Gegenstände eine wichtige Rolle. Die Gegenstände berühren sich,
sind aber nicht fest verbunden und ergeben in der äußeren Form eine neue Gedanken- und
Erlebniseinheit. Als zusammengestellte Einheit spiegelt die Stapelung metaphorisch die
Heilung, die Unvereinbares aushält. Das Etwas, als modellierte, ungebrannte Erde in Form
gebracht, trifft auf Gegenstände des Alltags, zum Beispiel eine Briefmarkensammlung,
einen Hocker, eine Vitrine usw., und bildet eine gleichgesinnte Verbindung, die ready-retinale
Heilung.« 09 –––––––– Die Verwendung von ›Ready Mades‹ oder ›Objet trouvés‹ birgt
die Möglichkeit, sich von dem minimalistischen Gebrauch der Stapelung und den dazugehörigen
theoretischen Spitzfindigkeiten unabhängig zu halten und gleichzeitig die
Notwendigkeit einer Ordnung in den Raum zu stellen, die dem Handgeformten, sich an
der Grenze zum Amorphen oder zur menschlichen Körperlichkeit Bewegenden, das aus
dem Erleben, also inneren Umständen kommt, eine polarisierende Gegenständlichkeit
entgegensetzt. –––––––– Was Constantin Brancusi als Berührung der Unendlichkeit betrachtete,
löst sich in Bettina Meyers Stapelungen in ein horizontal gelagertes ›Unvergleichbares
Vergleichen‹10 auf, das zwar auch Züge einer Fortsetzung oder auch Wiederholung
trägt; jedoch geht es beim Auffinden oder der Auswahl der Gegenstände darum,
die dadaistische Flohmarkt-Ästhetik und den poetischen Objektblick der Surrealisten
nochmals in einer weiteren Differenz, einer anspruchslosen Ästhetik zu unterlaufen, die
völlig wertfrei mit der Tonskulptur zusammengeht, also letztlich ihrer künstlerischen
Autonomie, ihrem Selbstbestimmungsanspruch das Wort zu redet. Dieses Unterlaufen
bekannter Ästhetiken verlangt nach der Fähigkeit, Gegenstände, die ästhetisch vorteilhaft
wirken, an bekannte Kunstwerke erinnern oder ein ästhetisches Nebeneinander/Miteinander
stören könnten, gerade nicht mitzunehmen und darüber hinaus nichts in die möglichst
anspruchslosen Gegenstände, die bestenfalls sowieso keiner finden und haben will,
und ihre Kombinationen hineinzudenken. Es gilt eben, wie die Künstlerin sagt, »Unvereinbares
aushalten zu können« . 11 Der überhöhenden, vertikalen Sichtweise der Stapelung im
Sinne Constantin Brancusis stehen auf andere Art zum Beispiel auch die Stapelungen von
flachen Staubtüchern (1988) gegenüber, die Andreas Slominski unter Glasglocken liegend
präsentiert, um ein geordnetes künstlerisches Understatement zu inszenieren, das jedoch
als ästhetische Falle gedacht ist und betrachtet werden kann, was Bettina Meyers Arbeiten
nicht anhaftet. Ihre künstlerische Arbeit ist vielmehr von einer Ernsthaftigkeit durchzogen,
die ohne ironisches oder zynisches Netz auskommt, das ihre auf einem labilem
Gleichgewicht beruhenden, anspruchslosen Stapelungen auffangen könnte. –––––––– Mag
es möglich sein, in Bezug zu der Schatzkammer oder dem Bild von Derick Baegerts nach
inhaltlichen Vernetzungen mit den Arbeiten Bettina Meyers zu suchen, zum Beispiel
über die Faltenwürfe der dargestellten Figuren, die in den Falten des Vorhanges gelüftet
und gelichtet werden, oder den Umstand, dass es als profanes mittelalterliches Bild eine
dennoch religiös-moralisch aufzufassende Eidesleistung thematisiert, die in dem waageförmigen
Objekt, das ein Herz wiegt, eine mögliche inhaltliche Umformulierung andeutet,
oder sich das Schachbrettmuster auf dem Nierentisch in dem Baegertschen Bild wiederfindet,
halten die Arbeiten der Künstlerin gemäß der künstlerischen Haltung, die die Stapelungen
umgibt, der gleichermaßen an Künstler/innen und Betrachter/innen gerichteten
Forderung Susan Sontags stand, gegen das Interpretieren zu denken, um die künstlerische
Form in ihrem Eigenwert gelten lassen zu können. Der Betrachter der Ausstellung
wird vielmehr dazu angeregt, das Unvereinbare auszuhalten.

